Wir träumen von Reisen in das Weltall:
Ist denn das Weltall nicht in uns?
Novalis
Prolog
HEIMAT DES LICHTS: 562ZT
Noch 1250 Kilometer.
Peynods narbige Oberfläche stürzte rasend schnell auf das kleine Raumfahrzeug zu, füllte bereits dessen halbes Cockpitfenster, griff mit gierigen Schwerkraftfingern nach ihm, während der stumme Näherungsalarm auf der Konsole hektisch blinkte. Hinter dem kartoffelförmigen Mond kroch Rasnar den Himmel hinauf, ließ die Sterne verblassen und tauchte alles in ein unwirkliches, sehr dunkles Rot.
Noch 1000 Kilometer.
Yoshikos Lippen bewegten sich, ihr Gesicht war fahl vor Anspannung. Sie fluchte verhalten, doch durch die ultradichte Membran ihres Raumhelms drang kein Laut in das Beinahe-Vakuum, das im Cockpit herrschte. Sie verfluchte den Tazura, an dem sie geboren worden war. Sie verfluchte ihre eigene Spontaneität, mit der sie sich schon seit ihrer Kindheit zielsicher von einer Hölle in die nächste zu befördern verstand. Sie verfluchte den lange zurückliegenden Augenblick, als Sendir t'Grrt sie zu seiner Züglerin gemacht hatte und sie noch zu jung gewesen war, um ihn auszulachen und nein zu sagen.
Ganz besonders verfluchte sie dieses in seine Einzelteile zerfallende Stück Raumschrott, in dem zu sitzen sie das Pech hatte. Es war noch gar nicht so lange her, da war dieses Schiff, die AP Jokingly, das stolze Vorzeigeobjekt der Jonferson Space Dynamics Division gewesen. Jetzt war der Raumer kaum mehr als ein marodes Wrack.
Noch 750 Kilometer.
"Die Kreatur gebe auf!" Sendir t'Grrts Stimme aus den Audiofeldern des Membranhelms. Yoshiko schaltete das Mikrofon ein, als eine Handbreit über der Konsole ein Videofeld mit dem Abbild des Split aufflackerte. Seine Lippen und der lange graue Backenbart bewegten sich seltsam unsynchron zu seiner Stimme. "In drei Mizuras habe ich sie eingeholt!"
"Du wirst mich schon ausknipsen müssen, Taggert", erwiderte Yoshiko beherrscht. Sie warf einen Blick auf die Instrumente, dann aus dem Bugfenster, das nun vollständig von Peynod und Rasnar ausgefüllt wurde. Jetzt, da ihr Deal mit ihm und der Giftschlange Moo-Kye hinfällig geworden war, würde es ihm großes Vergnügen bereiten, sie zu töten, das war ihr klar. Zumal er nichts von der geheimnisvollen schwarzen Kugel wusste, die sie dem Dreiäugigen abgenommen hatte, und von der sie ihm nicht einmal um den Preis ihres Lebens erzählen würde. Der Split machte eine abschätzige Geste mit zwei Fingern der rechten Hand, schwieg aber.
Noch 500 Kilometer.
Der unförmige Gesteinsbrocken, auf den das schwer beschädigte Schiff zustürzte, war viel zu klein, um eine eigene Atmosphäre zu halten. Aber er umkreiste Rasnar als dessen innerster Mond, und in Dugouts unter seiner Oberfläche lebten einige Prospektoren, die dort nach seltenen Kohlenstoffverbindungen suchten, die von dem großen Gasplaneten herabregneten. Irrtum, sie hatten dort gelebt, erkannte Yoshiko, als sie die glasig-schwarzen Bombenkrater bemerkte, die größer werdend vom Horizont her auf sie zustrebten. Jetzt lebte dort unten wohl gar nichts mehr. Unwillkürlich stellte sie sich eine Prospektoren-Familie vor, die voller Entsetzen auf einen Gravidarschirm starrte, ohne auch nur das Geringste gegen die sich nähernden nuklearen Lenkwaffen unternehmen zu können. Sie schluckte schwer.
Noch 250 Kilometer.
Nein. Kein Mitgefühl, ermahnte sie sich, während sie das Lagekontrollsystem ein letztes Mal überprüfte und nachjustierte. Sie hatte genug mit ihren eigenen Problemen zu tun, und außerdem: Wer in den letzten zwei Mazuras in den inneren Sektoren geblieben war, hatte sehr genau gewusst, was sich über ihm zusammenbraute. So wie auch Ser Alman, der den Kriegsausbruch schon damals vorausgesehen haben musste, ganz zu Anfang dieser Odyssee. Warum war er unter diesen Umständen so lange bei ihr geblieben? Es gab nur eine Erklärung, dessen war sie sich heute sicher. O ja, er hätte ihr die Welt zu Füßen gelegt, wenn sie nur ehrlich zu ihm gewesen wäre. Wenn, wenn ...
Noch 100 Kilometer. 50.
Yoshiko brach in kalten Schweiß aus; das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie atmete aus und hielt die Luft an, als Peynod mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel mitten in ihr Gesicht raste.
Iliyana!
Die Faust eines Giganten traf sie, als die Triebwerke planmäßig zündeten und sofort auf Volllast hochfuhren. Eine Kraft, die keinen Widerstand duldete, zwang Yoshikos behandschuhte Hände weg von den Kontrollen und presste ihre Arme in schmerzhafter Verrenkung gegen die Cockpitwand; ihr Kopf wurde wie der einer Gliederpuppe schräg gegen die Rückenlehne des Pilotensitzes gedrückt und dort fixiert. Nur unter Mühe und mit schmerzenden Lungen gelang es ihr, Atem zu schöpfen. Mit geweiteten Augen und verdammt zu völliger Bewegungslosigkeit, sah sie den scharfen Grat eines Ringgebirges näher rücken, während die AP Jokingly, auf einer grellen Feuersäule reitend, immer schneller der Oberfläche Peynods entgegen fiel.
Durch die Schiffshülle übertrug sich das dumpfe Brausen der Triebwerke in Yoshikos Druckanzug und vermischte sich dort mit dem Kreischen der Generatoren zu einer infernalischen Lärmkulisse. Die Kompensatoren versuchten, der unmenschlich hohen Scheinkräfte Herr zu werden, schafften es aber nur teilweise.
Als die AP Jokingly in kaum hundert Metern Höhe knapp über die Kante des Ringgebirges hinwegschrammte, keuchte Yoshiko entsetzt auf; zu mehr reichte ihr Atem nicht. Auf einmal spürte sie die eisige Hand der Todesangst mit einer Intensität nach ihrem Verstand greifen, die ihr neu war, und die sie überraschte. Sie wollte nicht sterben, nicht jetzt, nicht so! Nicht einmal jene entartete Singularität weit draußen im Nichts hatte ihr eine derartige Angst eingejagt! Sicher, sie riskierte immer viel. Diesmal aber schien sie ihr Glück einmal zu oft herausgefordert zu haben. Sie hatte das Swingby-Manöver ungesund knapp kalkuliert, so, wie sie es sich vor vielen Wozuras bei Ser Alman abgeschaut hatte. Das war zum einen wegen Peynods geringer Gravitation nötig, zum anderen aber auch deshalb, um ein paar zusätzliche Sezuras Vorsprung vor Sendir t'Grrt zu gewinnen. Sezuras, die ihr, wie sie befürchtete, letzten Endes ohnehin nichts bringen würden.
Peynod war jetzt so nahe, dass Yoshiko schemenhaft einzelne Felsbrocken auf einer vorbeirasenden Geröllfläche ausmachen konnte. Rasnar bedeckte den gesamten Himmel des Trabanten, ockerfarben und braun wie ein teladianisches Schlammbad. Gleich würde es zum Bodenkontakt kommen, es war unausweichlich! Unwillkürlich spannte Yoshiko die Muskeln in Erwartung des Aufschlags - was recht sinnlos war, wie sie sehr wohl wusste. Die kinetische Energie, die in der AP Jokingly steckte, entsprach der einer kleinen Wasserstoffbombe. Sie würde im Augenblick des Crashs sofort atomisiert werden.
Am Horizont erschien ein schmaler dunkler Strich, der sich rasend schnell zu einem Spalt verbreiterte, dann eine Kluft zwischen die Oberfläche Peynods und die enorme Scheibe Rasnars trieb, und schließlich zu einem schwarzen Abgrund anwuchs. Weiße Lichtpunkte brannten stecknadelgroß und kalt in seiner Tiefe.
Die Sterne!
Rasnar kroch weiter den Himmel hinauf, Bogensekunde um Bogensekunde; der verschwommene untere Rand der Planetenscheibe berührte schon beinahe die Oberkante des Cockpitfensters. Nach weiteren bangen Sezuras verschwand der Gasplanet vollständig aus Yoshikos Blickfeld, während die AP Jokingly, zögerlich zunächst, aber dann immer schwungvoller, aus Peynods winzigem Schwerefeld empor zu klettern begann. Yoshiko keuchte erneut, diesmal vor Erleichterung, als das Blinken des Näherungsalarms erlosch: Damit hatte sie schon nicht mehr gerechnet! Unerwartet erfolgte ein harter Ruck, der sie nach vorne in die Gurte schleuderte. Die Kompensatoren, endlich von der auf ihnen lastenden zentrifugalen Scheinkraft befreit, mussten nun nur noch die lineare Komponente der Beschleunigung ausgleichen, was ihnen gewohnt zuverlässig gelang. Sofort kehrte die künstliche Bordschwerkraft auf ihren Standardwert von 1,1 G zurück und das Kreischen der Generatoren minderte sich zu einem leisen Winseln, das im Rauschen des Antriebs unterging.
Yoshikos Herz schlug nach wie vor wild, und ihr Atem ging schnell und keuchend. Aber sie lebte! Sie versuchte sich die schmerzenden Arme zu reiben, doch das Gewebe ihres Druckanzugs war zu dick und hinderte sie daran. Mit einem angedeuteten Schulterzucken ließ sie davon ab und überprüfte die Instrumente. Nicht einmal fünfzehn Sezuras hatte das gesamte Swingby-Manöver gedauert - einige wenige Augenblicke nur, die ihr jedoch wie Stazuras vorgekommen waren!
Noch immer flimmerte Sendir t'Grrts Bild über der Konsole, sein fahlgelbes Gesicht jetzt eine Grimasse der Verblüffung. Yoshiko konnte sich lebhaft ausmalen, was in dem Split vorging. Diesen halsbrecherischen Trick hatte er auf keinen Fall kommen sehen. Wahrscheinlich fragte er sich gerade, woher sie, die er für schwach und dumm hielt, überhaupt das Wissen um derartige Manöver hatte!
"Hey, Taggert!", rief Yoshiko mit krächzender Stimme. Sie räusperte sich, während sie die Anzeige des Gravidars ablas. Ja, ihr Flugvektor stimmte haargenau: Peynod und Rasnar fielen hinter ihr zurück, ihr Ziel, das Sprungtor zum Sektor Argon Prime, befand sich direkt voraus, nur zweieinhalb Lichtsezuras entfernt; die AP Jokingly würde es in Kürze erreichen. Sie holte tief Luft. "Weißt du was?", schrie sie lauthals in den Membranhelm. Sie hustete und räusperte sich erneut. "Du bist hier die Kreatur, nicht ich! Du bist erbärmlich, du hast keine Ehre und keine Würde! Ich verachte dich, ich habe dich schon immer verachtet! Ich würde vor dir ausspucken, wenn ich nicht dieses verdammte Ding aufhätte!" Sie schaltete das Kehlkopfmikrofon aus und schnippte das Hologramm des Split weg, bevor er etwas erwidern konnte. Hätte sie sich nicht hundeelend gefühlt, sie hätte breit gegrinst. Das würde Sendir auf Hundertachtzig bringen, mindestens. Und dort wollte sie ihn haben.
Aber wo steckte er überhaupt? Sie bemühte das Gravidar und die Optik - und zuckte zusammen, als der Computer schemenhaft ein nahezu zylindrisches Objekt auf den Schirm holte, verrauscht, kontrastarm, sicherlich mehrere Millionen Kilometer entfernt. Ein Schiff der Sohnen? Nur zu gut erinnerte sie sich an die Begegnung mit den sagenumwobenen Wesen, und an deren Warnung, die sie wissentlich missachtet hatte. Aber nein, es waren keine Sohnen. Es war lediglich die im Sonnenlicht schimmernde Hülle einer argonischen Raumstation auf einem solaren Orbit, ausgebrannt und verlassen, wie viele der einst zahlreichen Installationen in den inneren Sektoren.
Sendirs Schiff hingegen - eine waffenstarrende M3-Klasse mit siebenköpfiger Besatzung - tauchte soeben weit hinter der AP Jokingly aus Peynods Schatten auf. Natürlich hatte der Split ebenfalls ein Swing-by-Manöver vollziehen müssen, um auf ihrem Kurs zu bleiben - die Gesetze der Himmelsmechanik machten für niemanden Ausnahmen. Allerdings hatte er es offensichtlich vorgezogen, die Bahndaten wesentlich konservativer zu berechnen, als sie. "Bah, Split", murmelte Yoshiko verächtlich. "Erst den Macho raushängen lassen, aber wenn's drauf ankommt, den Schwanz einziehen!"
Andererseits konnte er sich das auch erlauben. Die Fernortung verriet, dass die Triebwerke des M3 auf eine Schubleistung hochfuhren, der die AP Jokingly ohne ihre getunten JSDD-Triebwerke nichts entgegenzusetzen hatte. Leider waren diese schon vor zwei Mazuras zu einem Häufchen Nanostaub zerfallen, noch bevor sie und Ser Alman das uralte Tor im tiefen Raum zwischen den Welteninseln entdeckt hatten. Sendir würde sie einholen und auf sie feuern. Diese Irrfahrt würde ein Ende nehmen, sehr bald schon, in wenigen Mizuras.
"Scheiße, ich wünschte, ich könnte die Membran ausschalten", murmelte Yoshiko, teils, um ihre eigene Stimme zu hören, teils, weil es stimmte. Zu gerne hätte sie sich den Nacken gerieben, in dem der verschwitzte Knoten ihrer langen blonden Rastazöpfe schon seit Stazuras für ständigen Juckreiz sorgte. Sie zuckte mit den Schultern. Egal.
Da war noch immer der Hauch der Furcht in Yoshiko, aber eine kalte Ruhe erfüllte sie jetzt. Das Ende mochte kommen, möglich. Aber lag nicht in jedem Ende auch die Chance für einen Neuanfang? Ja, vielleicht für Leute wie Marteen Winters, diesen besessenen alten Mann von der Erde, dem sie ganz zuletzt soviel Kummer hatte bereiten müssen. "Für eine gute Idee ist es nie zu spät", hatte er gekichert und sie mit seinem pergamentenen Grinsen fixiert. Ein Neuanfang? Vielleicht für Tebathimanckatt, der zwei der schwarzen Kugeln des Alten Volkes besaß, die er dem Pontifex Maximus präsentieren würde, um sich heilig sprechen zu lassen. Ein Neuanfang auch für Ser Alman? Ja. Und für Iliyana!
Du schaffst es, Ili - ohne mich eher als mit mir! Viel Glück, Süße!
Da geschah es. Wie in Trance verfolgte sie auf dem Gravidar einen winzigen weißen Punkt, der sich soeben von dem größeren Blip des M3 löste und mit hoher Beschleunigung auf den Koordinatenursprung zuraste - auf die AP Jokingly.
Es war ein Schwarm Lenkwaffen, wie die mit einiger Verzögerung eintreffenden Daten der Infrarot-Sensoren eindeutig bewiesen. Sie hatte gewusst, dass Sendir früher oder später Raketen auf sie abfeuern würde. Sich jetzt mit der unumstößlichen Tatsache konfrontiert zu sehen, dass er es wirklich und wahrhaftig getan hatte, ließ ihre Gedanken rasen und trieb ihr den Schweiß aus den Poren.
Wo war das Sprungtor? Sie konnte es bereits mit bloßen Augen als kleinen silbernen Ring gegen die Nacht des Alls ausmachen. Noch 76 Sezuras, bis sie es erreichte. Die Lenkwaffen würden die AP Jokingly in 73 Sezuras einholen. Es gab nichts, was sie dagegen ausrichten konnte. So viel zu Neuanfängen.
"Zeit, Abschied zu nehmen", flüsterte Yoshiko mit rauer Stimme und ließ das Steuerhorn los, an dem sie sich schon seit ein paar Mizuras verkrampft festklammerte. Da war sie wieder, ihre alte Geliebte, die Todesangst.
Knapp über siebzig Sezuras später passierte der blendend weiß wabernde Feuerball, der einmal ein Nova-Aufklärer namens AP Jokingly gewesen war, das Sprungtor nach Argon Prime. Am Zielort kam nur eine Wolke glühender Wrackteile und pulverisierter Schlacke heraus, die sich schnell auf ein Volumen von mehreren Lichtsezuras ausbreitete, um sich bald darauf in der Unendlichkeit zu verlieren.